Nennen wir sie Rita. Das passt zu ihr, 1974 ist sie zehn Jahre alt. Sie fährt jetzt mit dem Bus in die Eifler Kreisstadt zum Gymnasium, quält sich kurzatmig rauf auf den Berg. Da oben thront das neue Gemäuer aus Beton und Glas, das die Leute in ihrem Dorf den Intelligenzbunker nennen. Im Bus sitzt sie in der hintersten Reihe, steckt die kleine Hand in die Schultasche und streichelt die neuen Bücher, die in durchsichtige Plastikfolien mit rotem Samtrand verpackt sind. Und dann sitzt sie mit 35 Söhnen und Töchtern von Ärzten, Rechtsanwälten und Apothekernauf viel zu kleinen Stühlen. Wenn sie etwas sagt, lachen die anderen. Sie neigt den Kopf und kaut auf ihrenZöpfen, da lachen die anderen auch. Einige Wochen hört sie nur zu, sie ist hier, weil sie was zu sagen hat, meint der Vater, weil sie eine Gewinnerin ist, sagt er, weil sie es allen zeigen wird und da wird ihr doch dieses Lachen nichts ausmachen? Mein Gott, Kind, wenn das dein einziges Problem ist, natürlich gehst du weiter dahin und nein, du kannst nicht zu deinen Freundinnen auf die Hauptschule. Ich hau den Saupänzen eine auf´s Maul… Da erzählt sie dem Vater nichts mehr von dem Lachen. Stattdessen fragt sie die Großmutter, wo die Wörter herkommen. Die bringt der Wörtervogel, flüstertdie Großmutter. Er wohnt in den Wolken und wen er liebt, zu dem fliegt er. Das merkt sie sich.
Sie versucht jetzt, nicht mehr dat und wat zu sagen, sie trainiert nachts das s an das kleine Wort zu hängen, aber die Wörter wollen sich nichts Neues anhängen lassen. Als sie es schafft, fühlt sich das kleine Wort pelzig auf der Zunge und zwischen den Zähnen an und als sie zum ersten Mal zum Vater sagt, er möge ihr das Brot geben, sagt er, wir sagen hier immer noch dat Brot, merk dir das. Willst wohl große Dame spielen? Hastwohl vergessen, wo du herkommst? Heimlich übt sie weiter, zu Hause sagt sie dat, wat und isch, in der Schule das, was und ich und irgendwann Tich, da lachen sie wieder, der Apothekersohn schaut aus dem Fenster. Mit den Jahren lernt sie, was sie wo sagen darf.
In der siebten Klasse gewinnt sie den Schreibwettbewerb, den der Schulleiterfür die beste Weihnachtsgeschichte ausgelobt hat, da lachen die Apothekersöhne und Notarentöchter schon lange nicht mehr. Sie weiß jetzt: Nur wenn sie die Wörter ausspricht, wird es schief und krumm, aber wenn sie die Worte aufschreibt, dann trifft sie genau, die Wörter tanzen nach ihrer Pfeife, der Wörtervogel sitzt auf ihrerSchulter und ein Wort nach dem anderen fließt aufs Papier.
Sie hat jetzt eine Freundin, Maria, mit der sie in den Unterrichtsstunden Briefe austauscht. Im Schreibwarenladen kauft sie dafür kleine Briefumschläge, die nach Veilchenpastillen riechen. Sie schreibt immer mit lila Tinte, das ist jetzt en vogue und sammelt die Briefe in einer Kiste. Während der Lehrer mit einem riesigen Geodreieck an der Tafel herumfuchtelt, schreibt sie Maria, dass der Sohn des Apothekers immer popelt, dass der Wörtervogel sie nachts besuchtund sie Schriftstellerin werden will. Das heißt Autorin, verbessert Maria. Autorin, antwortet sie, das klingt ja, als wollte ich auf einem Thron sitzen. Eines Tages fragt der Vater, ob in der Kiste Liebesbriefe sind, dann liest ereinen nach dem anderen beim Mittagessen vor. Die Geschwister feixen und der Vater stiepst sie mit dem Zeigefinger zwischen die Rippen. Sie krümmt sich. Meine Intelligenzbestie nennt er sie jetzt. Stiepsen sei kein Wort, sagt der Deutschlehrer. Pänz sei auch kein Wort. Viele Worte, die der Vater spricht, sind keine Worte für den Lehrer, deshalb verspricht sie sich, sie aufzuschreiben und sie in der Schule nicht mehr auszusprechen.
Sie übt. Immer noch nicht kann sie grün sagen, die Laute bleiben hart, immer wieder sagt sie krün und krau oder plau. Als sie die Abiturrede hält sind alle Wörter glattgelutscht und nachdem sie vom Podium geschlichen ist, hört sie, wie der Apotheker zu ihren Eltern sagt, es sei doch ein Wunder, was aus Bauernkindern werden kann. Da fragt der Vater ihn, ob sein Sohn immer noch popelt und ob der auch eine Rede vorbereitet hat. Das schreibt sie auf. Sie hat jetzt ein Tagebuch mit Schlüssel, mit Maria tauscht sie schon Jahre keine Briefe mehr, Maria ist nach der Zehnten gegangen und ist Buchhändlerin geworden.
Bei der Rhein-Zeitung hat sie ein Vorstellungsgespräch, aber das Volontariat bekommt der aus der Apotheke. Den Bauernhof gibt es jetzt nicht mehr. Der Vater zersägt im Schlachthof im Akkord Schweine und hängt die blutigen Hälften ins Kühlhaus. Sie weiß, dass sie nicht Schriftstellerin werden kann. Schriftsteller rauchen Pfeife und haben einen Schreibtisch aus Eichenholz, der in einemBibliothekszimmer steht, vor dem ein Kirschbaum steht, in dem ein Vogel sitzt. Schriftsteller sind berühmt und schreiben Geschichten über Brote und Ratten und haben Schreckliches erlebt. Sie hat noch gar nichts erlebt und einen Kirschbaum gibt es zwischen den engen Basalthäusern ihres Dorfes nicht und so erzählt sie nur dem Wörtervogel und dem Tagebuch von ihrem Traum. Die schweigen.
Sie wird Deutschlehrerin. Der Vater sagt: Dafür hab ich dich doch nicht auf die Schule geschickt, Schulmeister sind schlimmer als Versicherungsvertreter! In der Mensa trifft sie den Sohn des Apothekers wieder. Mit dem Volontariat hat es nicht geklappt. Jetzt also doch:Pillen und Tinkturen. Als er sagt: Manche Träume kann man nicht leben, aber man kann trotzdem versuchen, glücklich zu sein, vermutet sie eine verwandte Seele. In der Hochzeitsnacht popelt er und schaudernd erkennt sie, dass er immer noch derselbe ist. Der Wörtervogel schweigt ein paar Jahre, aber manchmal kommt er eben doch und dann schreibt sie anonym Geschichten für den „Kölner Stadtanzeiger“, denn es gibt eine Rubrik namens „Unverlangt eingesandt“. Als die Texte erscheinen, fragt der Apotheker: Ach, das, was eigentlich keiner lesen will?
Da versteckt sich der Wörtervogel weit weg von ihr. Manchmal, wenn er eine Rede für den Freundeskreis der Homöopathie schreiben muss, fragt der Apothekersohn, ob sie ihm zur Hand gehen kann, dann singt der Wörtervogel ein bisschen und wenn die Leute dem Apotheker nach der Rede staunend und lachend auf die Schulter klopfen, dann kratzt er sich am Arm und schweigt und popelt ein bisschen.
Die Jahre fliegen davon mit Kochen, Yoga, Zen-Buddhismus, Farbtherapie, Homöopathie, Pilates und Gartenarbeit, Buchbindekurs, Stricken, Vogelhausbau. Der Wörtervogel steckt das Köpfchen ins Gefieder. Als der Apotheker stirbt, kocht sie Tee, setzt sich an seinen verwaisten Schreibtisch und spuckt einen Kirschkern in den Garten. Sie schreibt eine Grabrede, bei der sich dem Vorsitzenden der Apothekerinnung die Haare an den Armen aufstellen.
30 Jahre nach dem Abitur fährt sie zu Maria in die Eifel-Buchhandlung. Als Maria sie fragt, ob sie noch schreibt, zuckt sie die Schultern und atmet ein. Maria fragt auch nach dem Wörtervogel. Erwürg ihn nicht, sagt Maria. Da atmet sie aus.
In der Schule sind die Flüchtlinge angekommen, acht von zehn sind junge Männer mit flaumigen Bärten und dürrenArmen, sie ducken sich, wenn sie sie anspricht, sie sind 20 Jahre alt und radebrechen und gestikulieren und lächeln verhalten. Sie gleichen keinerWelle, eher einem Brunnen und der Schulpsychologe trichtert ihr ein, dass manche Worte von nun an tabu sind. Boot ist so ein verbotenes Wort und Folter und auch das Wort Mutter…besser nicht! Die Kollegen raufen sich die Haare. Das schaffen die nie hier, sagt einer. An einem Montag geht sie zur Schulleiterin und erklärt ihr ihre Idee. Aber die brauchen doch Fußball, keine Gedichte, sagt die Schulleiterin. Sie bleibt dabei, nimmt ihre Gedichtbücher mit in die Klasse, zwei große Kisten schleppt sie in den dritten Stock und sagt: Lest. Und dann: Schreibt. Was wir wollen?, fragt Mohammad? Egal, antwortet sie. Ich kann das nicht, sagt Can. Du kannst, sagt sie. Darf ich „Fuck you“schreiben, fragt Suleiha. Schreib es dreißigmal auf, wenigstens so oft du kannst, antwortet sie. Darf ich auch etwas Privates schreiben, fragt Zaira. Ich bitte darum, sagt sie. Ich kann kein Akkusativ, sagt Meltem. Dativ kannst du auch nicht und es ist völlig egal, schreib einfach, sagt sie.
Woher kommen die Wörter, fragt Muharram. Da erzählt sie ihnen vom Wörtervogel und dass sie nur ein wenig warten müssen, stillsitzen und warten,und dann komme er schon. Die Sonne scheint auf alte vernarbte Tische aus Resopal. Einer fängt an zu schreiben. Dann alle. Der Wörtervogel setzt sich mal einem, mal einem anderen auf die magere Schulter.
Afghanistan ist meine Mutter, mein Vater und mein Kind, schreibt Aliasghar.
Neulich traf ich den Sensenmann in meiner Straße, schreibt Süleyman.
Meine Heimat ist eine ranzige Kneipe, schreibt Luzin.
Ich muss meine Wörter gebären und mein Mund blutet, schreibt Meltem.
Wo ist der Krieg, wenn alle tot sind?,schreibt Ramazan.
Was träumt der Wörtervogel, wenn er schläft, schreibt Ali.
Am Abend liegt sie still und hört dem Kirschbaum vor dem Haus beim Wachsen zu. Der Wörtervogel schläft jetzt und morgen wird ein neuer Tag sein und noch ein Tag und noch einer. Rita lächelt leise. Dann löscht sie das Licht.